„Mein Zahn tanzt.“ Kann man die deutsche Muttersprache verlernen?
- 11.11.2016
- Um die Frage zu beantworten, müssen wir sie zunächst genauer aufschlüsseln: Wer ist „man“? Was bedeutet „Sprache“? Was heißt „verlernen“? Erstens: Ob man seine Muttersprache wieder verlernen kann, hängt zunächst sehr stark vom Altersfaktor und von der Dauer des Aufenthalts im Ausland ab. Wie alt war die Person, als sie Deutschland verlassen hat? Gehen wir nicht von Kleinkindern, sondern von Jugendlichen und Erwachsenen aus, dann ist es so, dass die einmal erworbene Muttersprache oder Muttersprachen ein Leben lang mehr oder weniger verfügbar bleiben. Bei kleinen Kindern etwa bis Schuleintritt ist es allerdings so, dass sie die Muttersprache tatsächlich wieder verlernen können, wenn sie ihr überhaupt nicht mehr ausgesetzt sind und sie selbst nicht mehr verwenden. Dies ist ein zentraler Grund für die bilinguale Erziehung in vielen Familien mit einer anderen Herkunftssprache. Dabei gilt: Je jünger, desto vollständiger wird die Sprache verlernt. Obwohl Kinder bereits mit einem Jahr Rhythmik und Lautstrukturen sowie erste Wörter der Muttersprache gelernt haben, werden sie sich daran vermutlich später nicht erinnern, wenn sie in diesem Alter aus der deutschsprachigen Umgebung vollständig herausgenommen würden. Zweitens stellt sich die Frage, was mit Sprache genau gemeint ist. Es ist nämlich ein Unterschied, ob wir von der Aussprache, dem Satzbau oder dem Wortschatz reden. Relativ stabil ist die Grammatik, also Satzbau und Flexion. Weitgehend stabil ist auch die Aussprache, allerdings kann sich nach einigen Jahren ein gewisser Akzent aus der Zweitsprache einstellen, wenn diese ausschließlich oder überwiegend verwendet wird, wovon wir hier ja ausgehen. Ziemlich instabil ist dagegen der Wortschatz. Hier kommt es häufig vor, dass Wörter entweder verloren gehen oder einem Sprecher die Ausdrücke der Zweitsprache schneller einfallen. Drittens kommt es darauf an, wie lange die Muttersprache nicht verwendet wird. Weilt ein deutscher Muttersprachler nur einige Woche oder Monate im Ausland, kann es – auch wenn er dort überhaupt nicht Deutsch spricht – allenfalls zu einer vorübergehenden Überlagerung der Muttersprache durch die Zweitsprache kommen; ein Phänomen, das wir auch oft von hier lebenden Personen aus anderen Ländern hören, wenn sie berichten, dass sie sich beim Besuch in der alten Heimat jedes Mal erst warmsprechen müssen. Die Muttersprache ist dann allenfalls etwas eingerostet, aber nicht verlernt. Die eingangs gestellte Frage lässt sich also folgendermaßen beantworten: Kinder bis zum Alter von zirka sechs Jahren können die Muttersprache auf allen Ebenen vollständig wieder verlernen, wenn sie keinerlei sprachlichen Input mehr erhalten. Jugendliche und Erwachsene verlernen ihre Muttersprache abhängig von der Abwesenheitsdauer allenfalls partiell, können sie aber mit entsprechender Übung jederzeit wieder aktivieren. Was bleibt, sind dann Wortunsicherheiten, wie mein „Zahn tanzt“ statt mein Zahn tut weh oder ein entsprechender Akzent.