Wissenschaft und Religion - Getrennte Werke?
- 13.11.2015
- Bertolt Brecht hat die Ur-Szene des abendländischen Konflikts zwischen Wissenschaft und Religion bildmächtig gestaltet: bigotte Kirchenfürsten, die sich weigern, durch Galileis Fernrohr zu schauen und gegen den klaren Augenschein an ihren überholten Meinungen festhalten. So hat sich das Bild verfestigt, dass Religion bestenfalls eine Vorstufe, eher aber die Gegnerin der Wissenschaft sei. Aber eigentlich geraten Wissenschaft und Religion nicht miteinander in Konflikt. Sie bewohnen unterschiedliche Provinzen im menschlichen Geistesleben. Die Wissenschaft entspringt zwei Quellen. Die eine ist der unstillbare Trieb des Menschen, wissen zu wollen. Die andere ist ihr unentbehrlicher Beitrag zu der Aufgabe, die Kräfte der Natur und des Zusammenlebens ins Lebensdienliche umzulenken. Wenn Religion versucht, auf dem ureigenen Gebiet der Wissenschaft mitzureden, überschreitet sie ihr Gebiet. Zu der Frage etwa, in welcher Zeitspanne die Welt entstanden ist, oder welcher Himmelskörper sich um welchen dreht, hat sie nichts beizutragen. Doch was sind dann die Gründe der Religion? Auch hier kann man zwei nennen. Religion ist einerseits eine Antwort auf die Erfahrung des Heiligen. Das, was Menschen tief im Innersten ergreift, sucht sich wieder seinen Weg nach draußen, in die Darstellung: in Gebet und Meditation, in Andacht und Gesang. Wir ahnen das auch heute noch, wenn wir im Halbdunkel ein prächtiges Gotteshaus betreten oder früh am Morgen auf einem Berg den Sonnenaufgang betrachten. Und Religion ist andererseits eine Weise, mit den Wechselfällen des Lebens umzugehen. Die Philosophen nennen es „Kontingenz“: das, was uns einfach widerfährt, dem keine höhere Notwendigkeit innezuwohnen scheint. Wie eine Krankheit. Wie eine gelungene Partnerschaft. Die Geburt des Kindes. Die Umstände des eigenen Todes. Wie die Entstehung der Menschheit überhaupt. Wissenschaft kann all dies ‚erklären‘, aber ihm keinen Lebenssinn abgewinnen. Religion hingegen stellt eine symbolische „Kultur des Umgangs mit dem Unverfügbaren“ (Hermann Lübbe) bereit und arbeitet so gerade darauf hin, dem Leben und seinen Ereignissen einen Sinn zu geben. Dass das sehr persönlich ausfallen kann und nicht auf die großen Weltreligionen beschränkt ist, versteht sich von selbst. Anderseits überliefern die Weltreligionen den Fundus solcher religiösen Symbole zur freien Benutzung. Wissenschaft und Religion sind getrennt. Beide haben das Potenzial, zum Blühen menschlichen Lebens beizutragen. Beide haben aber auch dämonische Möglichkeiten. Atombombe und überhöhter CO2-Ausstoß sind ein Ergebnis der Wissenschaft. Fanatismus und Verfolgung Andersdenkender gehören zu den Erscheinungen der Religion. Am wenigsten zeigen sich solche Dämonien vielleicht da, wo die Faszination für die menschliche Höchstleistung in der Wissenschaft und das demütige Anerkennen der universalen Abhängigkeit des Menschen Hand in Hand gehen. So können beide gemeinsam einen Beitrag zu einem kulturvolleren, menschenwürdigen Leben leisten.