Sprache, Freunde, Familie: Was bedeutet Heimat?
- 13.11.2015
- Ist es der Klang des ostpreußischen Deutsch? Sind es die Kochkünste der Großmutter in Anatolien? Oder war es nicht doch die Linde im Garten der Eltern mit dem Baumhaus? Wir alle haben solche Fluchtpunkte im Alltag, Erinnerungen aus dem Kopfkino, die vor unseren Augen stehen und präsent sind, als wäre das, was Jahrzehnte vergangen ist, nur Sekunden alt. Die menschliche Erinnerung braucht dergleichen, sagen uns die Psychologen und die Kognitionswissenschaftler, und sie sagen uns auch, dass wir diese Erinnerungen modellieren, also im Laufe der Zeit verändern. Eines aber bleibt: das Gefühl, dass alles das mit Heimat zu tun hat, mit Geborgenheit in einer überschaubaren Umgebung, mit Menschen, die uns wohlgesonnen waren, die wir kannten, vielleicht liebten, mit einer Dimension, die weit in das Gestern zurückweist und deswegen historisch ist. Ist das Heimat? Lassen wir beiseite, was sich Wissenschaftler beim Begriff „Heimat“ gedacht haben. Nichts ist falsch daran, alles richtig, aber: Wollen wir Heimat wirklich wissenschaftlich definieren? Heimat ist vor allem individuell besetzt. Deswegen fallen allgemeine Definitionen so ungemein schwer. Keine Wissenschaft kann einen Kriterienkatalog aufstellen und eine Checkliste formulieren, die abgearbeitet werden muss: Das ist nun Heimat. Heimat ist nichts theoretisch Fassbares, nichts über individuell Verbindliches und nichts Statisches. Man kann sich das verdeutlichen, wenn man sich vorstellt, wie unsereiner auf den berühmten röhrenden Hirsch über dem Wohnzimmersofa reagiert: Heimat sieht für die meisten von uns anders aus, aber wenn jemand bei diesen Bildern Heimatgefühle entwickelt, ist es deswegen nicht falsch. Und der legendäre Tatort-Kommissar Horst Schimanski aus Duisburg verkörperte auch eine Form von Heimat, nur eine noch wieder andere. Heimat also: Sprache? Natürlich. Freunde und Familie? Natürlich, aber auch die Nachbarn, die Schulkameraden und die Arbeitskollegen können dazugehören. Der Ort des Wohnens? Natürlich, aber es ist gleichgültig, ob sich vor dem Fenster ein Hinterhof öffnet oder ein Schlosspark erstreckt. Heimat ist individuell und klassenlos. Heimat grenzt ab: Die Heimat des Einen muss nicht die Heimat des Anderen sein. Heimat und Fremde sind Gegensätze: Was heimatlich ist, ist vertraut. Was fremd ist, ist eben nicht Heimat. Wir erleben es gerade. Hunderttausende Menschen geben ihre Heimat auf und suchen sich eine neue. Bei uns. Wir sollten denen, die auf der Suche nach einer Heimat sind und die sich auf uns einlassen wollen, diese neue Heimat bieten, auch wenn wir unsere Heimat sehr plötzlich mit Fremden teilen müssen. Heimat kann man auch neu erwerben, indem man eine frühere Heimat aufgibt. Nur Erinnerungen bleiben dann, sentimental verklärt. Erinnerungen an Ostpreußen, an Anatolien, an das Baumhaus im Garten. Und vielleicht wird uns die Nachbarin in unserer Heimat bald von ihrer früheren Heimat in Aleppo oder Kundus erzählen. Wir sollten ihr zuhören .