Flüchtlingsströme. Braucht Deutschland ein Einwanderungsgesetz?
- 13.11.2015
- Die Frage verknüpft das aktuelle Problem der nach Deutschland drängenden Flüchtlinge mit Einwanderung, also mit der Einreise nach Deutschland ohne Vorliegen besonderer Voraussetzungen und mit dem Ziel, auf Dauer zu bleiben und sich hier eine (neue) Existenz aufzubauen. In diesem Sinne ist Einwanderung im deutschen Aufenthaltsgesetz bislang nicht vorgesehen. Dieses kennt neben dem Visum vor allem zwei verschiedene Aufenthaltstitel: befristete Aufenthaltserlaubnis und unbefristete Niederlassungserlaubnis. Nach dem Gesetz kann ein unbefristetes Aufenthaltsrecht, also die Grundlage jeder Einwanderung, erst dann entstehen, wenn der Betreffende den befristeten Aufenthalt anstandslos absolviert hat; erforderlich sind grundsätzlich fünf Jahre legaler Aufenthalt, die Sicherung der wirtschaftlichen Existenz sowie die belegte Integrationsfähigkeit. Daneben steht das Asylrecht aus Art. 16a des Grundgesetzes, Notrecht für Verfolgte, das nicht als Instrument zur Steuerung dauerhafter Einwanderung dienen kann. In Ergänzung zum bestehenden Recht könnte man sich in der Tat liberale Regeln über die dauerhafte Einwanderung nach Deutschland vorstellen, denn dieses Land braucht bekanntlich Zuwanderung: Wir haben ein legitimes, ja existenzielles Eigeninteresse am dauerhaften Zuzug von Menschen, der allerdings – ebenso im wohlverstandenen Eigeninteresse – bedarfsorientiert zu gestalten und – auch das! – zu begrenzen wäre. Zwei Punkte sind jedoch zu bedenken: Zum einen kann die nachhaltige Regelung der Einwanderung heute keine nationale Maßnahme mehr sein, sie muss ein europäisches Projekt werden: In einem offenen EU-Binnenmarkt ist es schwer vorstellbar, dass einzelstaatliche Lösungen ohne einen abgestimmten europäischen Regelungsrahmen auf Dauer funktionsfähig wären. Folgerichtig hat die Europäische Union nach den EU-Verträgen die Kompetenz zur Entwicklung einer gemeinsamen Einwanderungspolitik. Zum anderen würde jede Regelung der dauerhaften Einwanderung eine Begrenzung bedeuten und als solche, wie bereits das geltende Recht, die Notwendigkeit eines effektiven Gesetzesvollzugs aufwerfen. Die Bilder dieses Sommers haben uns vor Augen geführt, dass auch in einem europäischen Rechtsstaat die tatsächliche Durchsetzung des geltenden Rechts eine Frage der Zahl sein kann: Menschenmassen, die Grenzkontrollstellen und Auffanglager überrennen, Bahnhöfe und Autobahnen in Beschlag nehmen, ist mit dem Gebot eines gesetzesgesteuerten Verwaltungsverfahrens schlecht beizukommen. Auch ein liberales Einwanderungsgesetz würde daran nichts ändern. In diesem Zusammenhang ist schließlich vor dem Hang der Deutschen zur „moralischen Selbstüberschätzung“ (H. A. Winkler) zu warnen: Regeln für die echte Einwanderung nach Deutschland würden nichts daran ändern, dass die Bedrängten der Welt dahin strömen, wo sie sichere und komfortable Zuflucht finden – und sei es nur für eine gewisse Zeit. Auch ein Einwanderungsgesetz könnte daher die gegenwärtigen Flüchtlingsströme weder umlenken noch zum Versiegen bringen. Hierfür wären sehr viel weitergehende Maßnahmen erforderlich, zu denen sich weniger der deutsche Gesetzgeber, als vielmehr die europäischen Organe oder solche der internationalen Staatengemeinschaft aufgefordert sehen müssen.