Zeugenaussagen. Können wir unserer Erinnerung vertrauen?
- 14.11.2014
- Gewissheit kann es natürlich nie geben, da wir das Vergangene nie mit dem aktuellen Erinnerungsbild abgleichen können. Die moderne Hirnforschung sagt uns sogar, dass Erinnerung nicht das Abrufen von wirklichkeitsgetreuen Bildern ist, sondern ein aktiver Prozess des sich immer wieder neu ReKonstruierens. Und wie jeder, der einmal »Stille Post« gespielt hat, weiß, verändern wir das Erzählte dabei jedes Mal ein wenig. Wem »Stille Post« als Illustration der Psychodynamik des Erinnerns zu banal ist, der sollte sich Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« vornehmen, eine tiefsinnige Aufarbeitung des konstruktiven Charakters der Erinnerung, die auf mehreren Tausend Seiten die allmähliche Rückgewinnung des Vergangenen durch Momente einer »mémoire involontaire« beschreibt – spontane Erinnerungen, ausgelöst durch lose Assoziationen zwischen aktuellen Sinneseindrücken und früheren Ereignissen, die aber eben nie unfehlbar sind. Ein Abgleich mit den Erinnerungen anderer kann zwar helfen, ist aber auch kein Garant, denn auch eine Gruppe kann sich etwas so lange einreden, bis jeder es glaubt – das kollektive »Wir haben ja nichts gewusst« nach dem Zweiten Weltkrieg könnte dafür nur ein Beispiel sein. Nicht nur dem Zeugen spielt die Erinnerung einen Streich, auch der Verbrecher ist nicht davor gefeit, zumal dann, wenn es sein Treiben zu verschleiern hilft. Hans Filbinger etwa konnte sich ab dem 8. Mai 1945 von einem Tag auf den anderen partout nicht mehr an seine NS-Vergangenheit erinnern, was die Baden-Württemberger leider nicht davon abhielt, ihn zum Ministerpräsidenten zu wählen. Und wo war das Erinnerungsvermögen seines Amtsnachfolgers Günther Oettinger, der Filbinger 2007 in einem perversen Anfall von Geschichtsverdrehung zum insgeheimen Widerständler zu machen versuchte? Politiker sind natürlich beileibe nicht die Einzigen, denen die Erinnerung öfter mal abhandenkommt, aber es ist befremdlich, mit welcher Selbstverständlichkeit sie diesem Leiden frönen. Ob Atomausstieg, Rettungsschirm oder Pkw-Maut, immer wieder übertüncht die verlogene »Alles-ist-gut«-Rhetorik mit der Totschlagvokabel der Alternativlosigkeit die Erinnerung daran, dass etwas kurz zuvor noch für unmöglich erklärt wurde. Adenauer wollte diese Unverfrorenheit zwar mit seinem Credo »es kann mich doch keiner daran hindern, alle Tage klüger zu werden« geschickt kaschieren. Oft muss man aber dennoch frei nach Karl Valentin konstatieren: »Erinnern gekonnt hätt’ ich mich schon, aber wollen hab ich mich nicht getraut.« Lieber nicht erinnern will sich im Moment auch Ursula von der Leyen an ihre vom Finanzminister aufs Spareis gelegte Imageoffensive bei der Bundeswehr. Dabei dachte sie sich doch nur: Was beim FC-Bayern funktioniert, muss doch auch bei mir klappen – ein bisschen Pep und alles ist gut. Das mag zum Lachen sein, ist oft aber nicht lustig. Man möchte sich vielmehr an den Kopf fassen vor so viel Erinnerungsverlust, natürlich nicht der völlig verzeihliche bei Zeugen, sondern der mitunter kaltschnäuzige und berechnende der Führenden unseres Landes. Mein Rat: Halten Sie es mit Dieter Hildebrandt und fassen Sie sich woanders hin, Ihr Kopf ist für solche Sauereien zu schade!