An die Urne. Warum gibt es in Deutschland keine Wahlpflicht?
- 14.11.2014
- Sinkende Wahlbeteiligung in vielen Demokratien wirft die Frage auf, wie dieser Trend gestoppt werden kann. Eine der diskutierten Lösungen heißt Wahlpflicht. Als Begründung für eine Wahlpflicht werden zwei Hauptargumente genannt: Bürgerrechte und Bürgerpflichten ergänzen sich; Wahlergebnisse sind umso stärker legitimiert, je mehr Menschen an Wahlen teilnehmen. Deutschland kennt keine Wahlpflicht. Auch im Nationalsozialismus und in der DDR gab es formal keine Wahlpflicht. Die Landesverfassung Baden-Württemberg spricht in Artikel 26.3 von Wahlen als Bürgerpflicht, aber es bleibt bei dem moralischen Appell. Immerhin 29 Länder, das sind fast ein Viertel aller liberalen Demokratien, besitzen Erfahrung mit Wahlpflicht. Und nur drei Länder (Chile, Niederlande, Österreich) haben ihre Wahlpflicht in den letzten Jahrzehnten wieder abgeschafft. Welche Wirkung eine Wahlpflicht auf die Wahlbeteiligung hat, hängt neben dem Wahlsystem und der politischen Kultur stark davon ab, ob es und wenn ja welche Sanktionen es für den Verstoß gegen die Wahlpflicht gibt. In Belgien als Land mit Wahlpflicht (aber seit 1993 ohne Sanktionen) liegt die Wahlbeteiligung deutlich niedriger als in Deutschland. In Australien, wo für das Nichterscheinen im Wahllokal ein Bußgeld von maximal 130 Dollar verhängt werden kann, liegt die Wahlbeteiligung sehr viel höher als in Deutschland. Befürworter einer Wahlpflicht verweisen auf die höhere Legitimation sowie Repräsentativität, die höhere soziale Ausgewogenheit und das höhere Maß an Inklusion. Sinkende Wahlbeteiligung verteilt sich nicht nach dem Zufallsprinzip. Nichtwählen ist vor allem bei Menschen verbreitet, die auch aus anderen Gründen benachteiligt oder ausgeschlossen werden. In Deutschland müsste das Grundgesetz geändert werden. Experten halten eine Wahlpflicht grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht bereits 1971 die Vereinbarkeit von Demokratie und Wahlpflicht bestätigt hatte, sofern nicht die Grundprinzipien demokratischen Wählens verletzt werden. Insbesondere zwei Fragen stellen sich bei einer Einführung in Deutschland. Erstens: Wie verhindert man, dass die Wahlpflicht zu einem Geschenk an die Schatzmeister der Parteien wird? Zweitens: Wie geht man mit der Fünfprozenthürde um, die bei einer höheren Wahlbeteiligung de facto noch höher würde? So wie es aussieht, wird über die Einführung einer Wahlpflicht in jedem Fall Karlsruhe das letzte Wort haben. Zum Nachdenken ist der Vorschlag der britischen Politikwissenschaftlerin Barbara Birch: Keine allgemeine Wahlpflicht, sondern eine Wahlpflicht nur für Erstwähler. Wahlforscher wissen, dass es erst einer Einübung in das Wählen bedarf, bevor eine Wahlteilnahme zur Selbstverständlichkeit wird. Und die Wahlforschung weiß auch, dass in Europa vor allem die niedrige Wahlbeteiligung der Jüngeren die größte Herausforderung darstellt. Denkbar wäre, eine solche Wahlpflicht für Erstwähler in Deutschland zunächst bei Kommunal-, Landtags- und Europawahlen auszuprobieren, also jenen Wahlen, die auch in Deutschland eine niedrige Wahlbeteiligung aufweisen.