Bundestagswahl 2013. Warum verlant Karlsruhe eine Wahlrechtsreform?
- 23.11.2012
- Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Demokratie – überraschenderweise aber ohne verfassungskonformes Wahlgesetz. Das Bundesverfassungsgericht stellte die Verfassungswidrigkeit 2008 fest, die zur Reparatur gestellte Frist bis Juli 2011 verstrich ungenutzt. Nachdem Deutschland drei Monate ohne gültiges Bundeswahlgesetz zugebracht hatte, trat Ende 2011 ein neues Wahlgesetz in Kraft. Dieses jedoch wurde in essentiellen Teilen im Juli 2012 in Karlsruhe erneut für verfassungswidrig erklärt. Ein gültiges Wahlgesetz ist – mitten im beginnenden Wahlkampf (Stand Oktober 2012) – noch nicht in Kraft. Was gestaltet die Wahlrechtsmaterie aus Sicht eines Mathematikers so schwierig? Zwei Fragestellungen sollen im Folgenden erörtert werden. Nach Auszählung aller Stimmen ergibt sich für jede Partei ein gewisser Prozentsatz an Sitzen, den sie im Bundestag belegen sollte. Allerdings wird die berechnete Anzahl der Sitze im Regelfall nicht ganzzahlig sein. So hätte nach Ergebnis der Bundestagswahl 2009 die CDU 163,08 Sitze und die SPD 137,74 Sitze im Bundestag erhalten müssen. Da die Sitzverteilung ganzzahlig sein soll, muss hier gerundet werden. Eine erste naheliegende Forderung wäre, dass der Rundungsfehler kleiner als 1 sein sollte, also die Sitzverteilung durch Ab- oder Aufrunden entsteht. Eine zweite natürliche Forderung wäre, dass eine Verbesserung des Ergebnisses im Vergleich zur letzten Wahl zumindest nicht zu einer Verringerung der Anzahl an Sitzen führt. Nun kann man mathematisch beweisen, dass kein Rundungsverfahren beide Forderungen gleichzeitig erfüllt. Entweder akzeptiert man große Rundungsfehler oder dass ein Wahlerfolg an der Urne eine Verringerung der Sitze im Bundestag nach sich ziehen kann. Das zweite Problem, jenes des negativen Stimmgewichts, ist eher politisch-juristisch gelagert. Durch die Kombination von Direktmandaten (Erststimme) und Listenmandaten (Zweitstimme) werden pro Wahlkreis ein Abgeordneter direkt und, über Landeslisten, weitere Abgeordnete nach dem Verhältnis der für die Partei abgegebenen Stimmen gewählt. Diese Mischung von Verhältniswahlrecht und Personenwahlrecht führt mittels komplizierter Ausgleichsrechnungen zu einer »personalisierten Verhältniswahl« mit manchmal überraschenden Ergebnissen. Falls mehr Kandidaten einer Partei direkt gewählt werden als der Partei aufgrund des Wahlergebnisses zustehen, entstehen sogenannte Überhangmandate. Die komplizierte Ausgleichsrechnung, die dabei verwendet wird, kann zu der absurden Situation führen, dass durch eine Stimme für eine Partei diese Partei einen Sitz im Bundestag verliert. Dieses »negative Stimmgewicht« war hauptverantwortlich für die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Hier eine vernünftige, verfassungsgemäße Regelung zwischen Verhältniswahlrecht und Personenwahlrecht zu finden, ist mathematisch ausgesprochen anspruchsvoll.