60 Jahre Bundesverfassungsgericht. Korrektiv für politische Fehlentscheidungen?
- 11.11.2011
- Das Bundesverfassungsgericht ist Gericht und Verfassungsorgan zugleich. Als Verfassungsorgan steht es neben dem Bundespräsidenten, dem Bundestagspräsidenten, dem Bundeskanzler und dem Präsidenten des Bundesrats. Über der protokollarischen Stellung des Bundesverfassungsgerichts darf allerdings nicht übersehen werden, dass wir es mit einem Gericht zu tun haben. Die Gerichtsqualität bedeutet, dass das Bundesverfassungsgericht nur am Maßstab des Rechts – nämlich des Grundgesetzes – judizieren kann und überdies nur auf Antrag tätig wird. Beide Wesensmerkmale unterscheiden das Bundesverfassungsgericht von allen anderen Staatsorganen, die aus eigener Initiative tätig werden können und für die das Grundgesetz nur den Rahmen ihrer Befugnisse, nicht aber den – ausschließlichen – Maßstab bildet. Verfassungsgerichtliche Entscheidungen müssen deshalb stets berücksichtigen, dass der Prozess demokratischer Willensbildung grundsätzlich offen sein muss und für die Entscheidungen grundsätzlich Regierungen und Parlamente berufen sind. Das Bundesverfassungsgericht kann derartige Entscheidungen – Gesetze wie andere Maßnahmen – nur korrigieren, wenn sie gegen die Verfassung – das Grundgesetz – verstoßen. Dem Gericht ist es demgegenüber verwehrt, politische Zweckmäßigkeitserwägungen anzustellen und auf ihrer Grundlage gesetzgeberische Entscheidungen zu korrigieren. Wie wichtig eine derartige richterliche Zurückhaltung ist, erschließt sich schon aufgrund der Zusammensetzung des Gerichts. Jeder der beiden Senate hat acht Mitglieder; für eine Entscheidung bedarf es der Zustimmung von fünf Richtern. Wir können schon aus demokratietheoretischen Erwägungen nicht fünf Richtern die Befugnis zusprechen, Entscheidungen der volksgewählten Parlamente – auf Bundes- oder Landesebene – aufgrund politischer Erwägungen zu korrigieren. Das Bundesverfassungsgericht ist eine rechtsstaatliche Errungenschaft hohen Grades und hat in vielen Staaten Nachahmer gefunden. Seine Verdienste um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik sind unbestritten. Gleichwohl kann dem Gericht nicht die Funktion zugeschrieben werden, »politische Fehlentscheidungen« schlechthin zu korrigieren. Es bedarf jeweils einer verfassungsrechtlichen Norm als Maßstab der Entscheidung und einer eingehenden Begründung, warum die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im konkreten Fall auf verfassungsrechtliche Grenzen stößt.