Chaos oder Ordnungswahn? Die Bewältigung von Komplexität
- Jürgen Kriz
- 12.11.2010
- Warum leben manche Menschen gern im Chaos, während andere einen Ordnungsfimmel haben? – so lautete eine Leserfrage. Als erste Teilantwort wäre anzuführen, dass sich ein »Hang zur Ordnung« schon evolutionär begründen lässt. So betont Friedrich Cramer, Direktor des Max-Planck-Instituts für theoretische Medizin, in seinem lesenswerten Werk über Chaos und Struktur, dass Leben von den ersten Eiweißmolekülen bis hinauf zu komplexen biologischen Vorgängen von »Chaosvermeidungsstrategien« durchzogen ist. Das unfassbar komplexe, chaotische Geschehen physikalischer Reize muss auf eine fassbare, regelmäßige Ordnung reduziert werden, damit Überleben möglich ist. Psychologische Experimente zeigen, dass sich der Mensch üblicherweise extrem unwohl fühlt, wenn er in eine Welt hineinversetzt wird, in der er keine Ordnung finden oder sie zumindest schaffen kann. Lässt man z.B. Kombinationen aus Wörtern und Farben lernen und ändert dabei die Zuordnungsregeln mit einem Zufallsgenerator, so erfinden die Menschen Regeln. Und sie reagieren ärgerlich und ungläubig, wenn man hinterher erklärt, dass es gar keine Ordnung gab. Ordnung ermöglicht Vorhersage und schafft damit Sicherheit. Von Patienten wissen wir, dass dies besonders wichtig bei erlebter Bedrohung ist. Das Ordnungsstreben kann dann schnell übertrieben werden und in Zwangsordnung ausmünden. Dies ist nicht nur individuell zu sehen: Ein Klima der Bedrohung wird in Familien oft über Generationen vermittelt. Angesichts der Gräuel des 20. Jahrhunderts – Pogrome, Krieg, Vertreibung – ist Ordnungswahn ebenso verständlich wie typisch. Chaotische Strukturschwäche kann als Gegenreaktion auf zu viel Ordnung entstehen – sei es, als Protest der Jugend, sei es aus Unfähigkeit der Eltern, den Sinn von Ordnung angemessen zu vermitteln. Hinzu kommt aber noch, was der amerikanische Psychologe Martin Seligman »erlernte Hilflosigkeit« nennt: Schon Tierversuche belegen, dass der Verlust des erfahrbaren Zusammenhangs von Handlung und Wirkung sowohl Resignation als auch hohe Aggressivität erzeugt. »Messies«, die in Chaos und Müll versinken, haben z.B. oft resigniert. Gesellschaftlich ist bedeutsam, dass die gestiegene Komplexität durch Globalisierung, Medienvielfalt etc. vielen Menschen die wichtige Erfahrung von Selbstwirksamkeit nimmt. Computer-Spielsucht mit Erfolgserfahrung ist daher ebenso zu verstehen wie die hilflose Wut angesichts von Wirkungslosigkeit – zum Beispiel »Stuttgart 21«. Dies sind ernste Mahnzeichen, Menschen einen sinnorientierten Mittelweg zwischen Chaos und Ordnungswahn zu bieten.