Europäische Integration: gewollt, aber nicht gelebt?
- Ingeborg Tömmel
- 12.11.2010
- Warum wird die europäische Integration nicht gelebt? Erstens: Politische Entscheidungen der EU sind komplex, abstrakt und meist nur indirekt wirksam. In Brüssel wird nicht über Hartz-IV-Sätze, die Gesundheitsreform, die Bildungsmisere oder die fehlenden Kita-Plätze debattiert. In Brüssel wird in erster Linie die Wirtschaft reguliert. Das heißt: Die EU erlässt zahlreiche Gesetze, die das Funktionieren eines europaweiten Marktes sicherstellen. Das ist wichtig, aber für die Bürger kaum interessant. Allerdings hat die Marktregulierung auch weitreichende Konsequenzen für die Bürger. So schränkt der Stabilitätspakt für den Euro den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten empfindlich ein, auch und besonders im Sozialbereich. Brüsseler Entscheidungen betreffen uns, auch wenn wir es kaum wahrnehmen. Zweitens: Das Ordnungsgefüge und die Entscheidungsprozesse der EU sind schwer durchschaubar. Unklar ist, wer in Brüssel das Sagen hat: die Kommission, der Rat oder das Parlament. Faktisch spielen alle drei Organe eine wichtige Rolle im Entscheidungsprozess. Im Ergebnis erzielen sie Kompromisse. Das verschärft allerdings das Problem der Undurchschaubarkeit. Die Entscheidungsträger können kaum zur Verantwortung gezogen werden. Wer ist verantwortlich für unliebsame Entscheidungen? Wen kann man eventuell politisch abstrafen? Wie könnte man sinnvoll am Entscheidungsprozess partizipieren? Was wäre die Lösung? Die komplexen Entscheidungsprozesse ebenso wie die Vielfalt der europäischen Organe entsprechen der Komplexität der zu lösenden Probleme. Die europäische Integration ist der Versuch, 27 nationale politische Systeme miteinander kompatibel und gemeinsam handlungsfähig zu machen. Vielfältige Interessenlagen müssen zum Ausgleich gebracht werden. Die Kommission vertritt dabei das gemeinsame, europäische Interesse. Im Rat werden die Interessen der einzelnen Staaten vertreten und gegeneinander abgewogen. Das Parlament vertritt die Bürgerinteressen, teilweise auch vehement gegen den Willen des Rates, wie beispielsweise das Swift-Abkommen gezeigt hat. Man kann diese Vielfalt kaum reduzieren. Man kann aber das System und seine Entscheidungen transparenter machen: durch gezielte Information, durch öffentliche Debatten, durch Stellungnahmen der Politiker und Parteien zu EU-Themen. Zudem kann die Teilhabe der Bürger erhöht werden: durch Volksbefragungen, durch Internet-Konsultationen, durch echte Europa-Wahlen. Denn nur wer die europäische Integration lebt, wird sie auch wollen.