Christen und Juden. Ein Volk Gottes und doch getrennt?
- 13.11.2009
- Christentum und Judentum sind zwei verschiedene, wenn auch verwandte Religionen. Christen und Juden glauben an denselben Gott, aber wie es Könige oder Staatspräsidenten gibt, die über mehrere Völker herrschen, so gehören zum Gott der Christen und der Juden auch mehrere Völker. Die Christen begreifen sich als Volk Gottes und die Juden begreifen sich ebenfalls als Volk Gottes. Völker können befreundet oder verfeindet sein. Ich sehe Christen und Juden als sich unterscheidende, aber freundschaftlich miteinander verbundene Völker Gottes und würde auch die Moslems mit hinzunehmen, denn der Islam ist eine mit dem Judentum und dem Christentum verwandte Religion, und auch Moslems glauben an denselben Gott. Diese Sicht der Dinge klingt selbstverständlich, ist aber in keiner Weise selbstverständlich. Die Christen haben sich früher als das einzige Volk Gottes betrachtet und haben behauptet, sie hätten die Juden als Volk Gottes abgelöst. Gott habe die Juden als sein Volk verworfen und enterbt, weil es Jesus nicht als den ihm gesandten Heilsbringer (Messias) anerkannt habe. Im Oktober war ich mit meinen Studenten in Bologna und habe mit ihnen unter anderem den Dom besucht. Dort findet sich ein Gemälde, auf dem der am Kreuz hängende Jesus mit der rechten Hand der Kirche, symbolisiert durch eine Frauengestalt, eine Krone aufsetzt, während er mit der Linken mit einem Schwert die Synagoge zu Tode sticht. Die christliche Enterbungstheorie hatte blutige Folgen, und die Blutspur reicht bis Auschwitz. Nach 1945 hat in den evangelischen und in der katholischen Kirche ein Umdenken begonnen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat vor gut fünfzig Jahren erklärt, die Juden seien nicht »von Gott verworfen oder verflucht«, reklamierte aber den Begriff »Volk Gottes« für die Kirche. Dagegen konnte die Evangelische Kirche in Deutschland vor gut dreißig Jahren in ihrer Studie »Christen und Juden« sagen: »Juden und Christen verstehen sich beide als Volk Gottes.« Wer als Christ den Anspruch der Juden, Volk Gottes zu sein, anerkennt, muss auf Judenmission verzichten. Folgerichtig haben die großen Kirchen judenmissionarische Bemühungen eingestellt. An die Stelle der Mission trat der Dialog, in dem beide Seiten Zeugnis geben von dem, was sie glauben, und dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdecken. Der dialogische, partnerschaftliche, freundschaftliche Umgang mit einer anderen Religion bedeutet nicht, dass Unterschiede generell beseitigt oder bedeckt werden. Christen, Juden und Moslems glauben an denselben Gott, aber sie verbinden mit Gott durchaus unterschiedliche Vorstellungen. Christen können von Gott nur in einer Weise sprechen, die Jesus und das Neue Testament mit einbezieht. Ein Jude dagegen kann von Gott nicht sprechen, ohne von Gottes Willen und Gebot zu sprechen. Die Grundlagen der Gottesrede sind teilweise verschieden, aber die Ergebnisse und Konsequenzen nicht unbedingt. Deshalb können, so meine ich, Christen, Juden und Moslems auch gemeinsam beten, gemeinsam Gottesdienst feiern.