Sprachverfall – Wer bestimmt, was »richtig« und »falsch« ist?
- 22.11.2022
- Es gibt einen gewissen Konsens darüber, was als »richtiges« und was als »falsches« Deutsch wahrgenommen wird: Einen Satz wie »zwei Esel steht auf der Weide« würde sicher niemand als »richtig« bezeichnen. In anderen Fällen könnten wir durchaus diskutieren. Sicher finden wir Leute, die Sätze wie »ich bin am Lesen« vollkommen akzeptieren, während andere darüber den Kopf schütteln. Aber wer bestimmt eigentlich, was »richtiges« und was »falsches« Deutsch ist? Das ist tatsächlich eine sehr gute Frage, die man sich im Alltag vielleicht öfter stellt. Grundsätzlich kann man Sprache aus zwei Perspektiven betrachten: Aus normativer Perspektive orientieren wir uns an festen Regeln, die wir (z.B. in der Schule) gelernt haben und beurteilen Sprache danach, ob sie diesen Regeln entspricht. Denken Sie z.B. an Regeln wie »wer nämlich mit schreibt ist dämlich«. Hier wird klar festgelegt, was »richtig« und was »falsch« ist. Eine normative Perspektive einzunehmen, ist z.B. dann sinnvoll, wenn wir Fremdsprachen lernen und klare Richtlinien brauchen. Wenn wir unsere eigene Sprache normativ betrachten, fällt es aber schwer, auf Veränderungen einzugehen und wir neigen schnell dazu, diese als »Sprachverfall« einzuordnen, weil sie nicht zu unseren erlernten Regeln passen. In der Sprachwissenschaft nehmen wir deshalb eine deskriptive Perspektive ein. Dabei schauen wir uns Sprache unvoreingenommen, z.B. in empirischen Daten an und leiten daraus Regularitäten ab. Wir beurteilen also nicht, was »richtig« und was »falsch« ist, sondern eher, was zu den Regularitäten passt, die wir abgeleitet haben und was nicht. Von einem Verfall der deutschen Sprache geht die Sprachwissenschaft deshalb nicht aus. Offizielle Regeln für die Rechtschreibung: Das bedeutet aber nicht, dass im Deutschen Wildwuchs herrscht – auch nicht aus sprachwissenschaftlicher Perspektive. Das Deutsche ist normiert, d.h. dass wir eine Standardsprache haben, die in formellen Kontexten (z.B. in Schule, Beruf und im öffentlichen Raum) geschrieben und teilweise auch gesprochen wird. Was genau zu dieser Sprachnorm gehört, ist zum Teil sehr streng, zum Teil gar nicht so genau festgelegt. Sehr eindeutig ist die Rechtschreibung geregelt. Der Rat für deutsche Rechtschreibung ist ein staatlich eingesetztes Gremium, das Rechtschreibregeln – Regeln, nicht Regularitäten – festlegt, nach denen man sich in formellen Texten zu richten hat. Es geht z.B. da - rum, wann ein und wann zu benutzen sind. Das ist sinnvoll, weil so gesichert ist, dass z.B. gleiche Begriffe in Gesetzestexten auch gleich geschrieben werden. Gewohnheitsrecht – Empfehlungen sind deskriptiver geworden: Andere staatlich beauftragte Gremien gibt es in Deutschland nicht. Das bedeutet, welche Wörter oder welche Grammatik wir nutzen, ist nicht von staatlicher oder offizieller Seite festgelegt. Hier gilt quasi Gewohnheitsrecht. Häufig suchen wir deshalb im Alltag z.B. Rat in Nachschlagewerken, die von unterschiedlichen Verlagen heraus - gegeben werden. Diese Nachschlagewerke haben früher einen sehr normativen Blick auf die Grammatik eingenommen, also konkrete Empfehlungen gegeben, was man tun und was man lassen sollte. Heute sind sie stärker deskriptiv ausgerichtet. Ein Beispiel ist die Duden-Grammatik, die inzwischen auf Grundlage von Analysen großer Sprachdatenbanken (z.B. aus Zeitungstexten) arbeitet und so auch neuere Entwicklungen des Deutschen beschreibt. Damit zurück zum Beispiel vom An - fang: »ich bin am Lesen« wurde in der Duden-Grammatik früher nur für die gesprochene Sprache empfohlen, heute aber auch für die geschriebene Standardspracheeben deshalb, weil es zu - nehmend in geschriebenen Zeitungstexten auftaucht. An solchen Beispielen ist deutlich zu erkennen, dass sich nicht nur das Deutsche ständig verändert, sondern auch unsere Wahrnehmung davon, was »richtig« oder »falsch« oder eben die Norm ist. Wer legt also fest, was »richtig« und was »falsch« ist? Zu großen Teilen ist das die Sprachgemeinschaft selbst, also wir alle gemeinsam, wenn wir sprechen oder schreiben, in Zeitungen, in Blogs oder in den sozialen Medien. Was wir dort häufig schreiben, wird irgendwann in die Sprachnorm aufgenommen. Die deutsche Sprache ist also letztlich unser Gemeinschaftsprojekt und das ist doch eine ganz schöne Vorstellung.