Afghanistan: Warum ist der Westen gescheitert?
- FB 01 – Kultur- und Sozialwissenschaften
- Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien
- 12.11.2021
- Nach 20 Jahren wirkte der Abzug der letzten westlichen Truppen im August 2021 wie eine panische Flucht. Dieser Eindruck wurde dramatisch verstärkt durch die Bilder am Flughafen Kabul, wo sich unter Lebensgefahr Tausende Afghaninnen und Afghanen drängelten, um noch einen Platz in einem Flieger zu ergattern. Die Taliban übernahmen erneut die Macht; der weithin unpopuläre Präsident Ghani verabschiedete sich grußlos ins Exil. Die vom Westen ausgebildeten und ausgerüsteten Sicherheitskräfte konnten oder wollten den Vormarsch der Taliban nicht stoppen. Monatelang erlag die westliche Politik somit einer kalkulierten Selbsttäuschung, als es von Washington bis Berlin hieß, die afghanische Regierung sei nunmehr in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Dieses Mantra diente primär dazu, den eigenen Abzug zu rechtfertigen und den Anschein einer halbwegs geordneten Exit-Strategie zu wahren. Am Ende war jedoch das Fiasko komplett, die USA und ihre NATO-Partner sind militärisch, politisch und moralisch gescheitert, keines der strategischen Ziele konnte erreicht werden. Als Beleg mag der Fragile States Index genügen, der seit 2006 anhand von 12 Risiko-Indikatoren Stabilität und Qualität von Staatlichkeit erfasst. Afghanistan gehörte stets zu den Top 10 der fragilsten Staaten der Welt. Die triumphale Rückkehr der Taliban war daher nur der Schlusspunkt einer langen Fehlerkette. Diese begann bereits direkt nach 9/11 mit der US-geführten Intervention gegen das Taliban-Regime, ohne dass es eine international wie regional abgestimmte Strategie für eine Nachkriegsordnung gab. Die Bush-Regierung konzentrierte sich zudem rasch auf den Irak-Krieg und stufte Afghanistan zu einem Konflikt zweiter Priorität herunter. Für das Scheitern des Westens spielen vor allem drei Aspekte eine Rolle: Erstens ist der Westen an sich selbst und seiner Machbarkeitshybris gescheitert. Einerseits wurden rhetorisch hehre Ansprüche wie die Förderung von Demokratie und Menschenrechten, gute Regierungsführung und Staatsaufbau propagiert; andererseits wurden diese nur ansatzweise mit entsprechenden Ressourcen, politischer Aufmerksamkeit und multilateraler Kooperation unterlegt. Der Westen hat sich selbst überfordert und vor Ort Erwartungen geweckt, die er enttäuschen musste. Zweitens ist der Westen an der Gleichzeitigkeit von Friedensförderung und Kriegsführung gescheitert: Während durch die NATO-geführte ISAF-Mission das Land stabilisiert werden sollte, um staatliche Sicherheit und zivile Entwicklung zu ermöglichen, wurden zeitgleich im Zuge der Operation Enduring Freedom (2001-2014) al-Qaida und Taliban militärisch bekämpft. Beide Operationen führten notwendigerweise zu Zielkonflikten, die die anfängliche Unterstützung durch die Bevölkerung unterminierten. Diese sah sich immer mehr als Leidtragende der fortgesetzten Gewalt und als Opfer sogenannter Kollateralschäden, was auch den Taliban in die Hände spielte. Drittens ist der Westen an den politischen Eliten und lokalen Warlords gescheitert. Ihr Verhalten war durch gewaltsame Machtkämpfe, Rivalitäten, Korruption, Ämterpatronage und offenen Wahlbetrug charakterisiert. Sie praktizierten oft das Doppelspiel, sich einerseits vom Westen finanzieren zu lassen, andererseits aber die westlichen Truppen als „Besatzung“ zu diffamieren und jede Verantwortung für Missstände an die internationalen Akteure zu delegieren. In der Summe kommt das Scheitern internationaler Bemühungen wenig überraschend. Frappierend ist hingegen, dass die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik darauf kaum vorbereitet war. Die Art und Weise des Scheiterns bedarf dringend einer unabhängigen Aufarbeitung. Dies sind wir uns selbst, aber vor allem jenen Frauen und Männern schuldig, die beim Einsatz in Afghanistan ihr Leben riskiert und verloren haben.