Scharia. Eine Gefahr für das deutsche Recht?
- 12.11.2021
- Das Stichwort „Scharia“ ist in Deutschland negativ besetzt. Es transportiert für viele die Vorstellung von drakonischen Körperstrafen, Blutrache, Frauendiskriminierung, Scharia-Polizei in deutschen Großstädten und so weiter. Die Angst vor einer schleichenden Islamisierung schwingt dabei immer mit. Dabei meint – nüchtern betrachtet – Scharia zunächst die Gesamtheit aller Normen des Islam, die sich vor allem aus dem Koran und den sogenannten Überlieferungen speisen. Darin enthalten sind einerseits religiöse Bestimmungen für das Verhältnis zwischen Mensch und Gott, zum Beispiel mit Anweisungen für das Sozialverhalten und die Gottesverehrung. Andererseits geht es um echte Rechtsnormen für das Verhältnis zwischen Menschen und zwischen Mensch und Staat im Diesseits. Relevant sind hier vor allem Regeln des Vertragsrechts, des Familien- und Erbrechts sowie des Strafrechts. Entsteht dadurch eine Gefahr für das deutsche Recht? Nun, durch das Regelsystem der Scharia selbst wohl kaum, denn das gilt hier ja grundsätzlich überhaupt nicht. Dass einzelne Personen in Deutschland Gewalttaten begehen oder Frauen diskriminieren und sich dafür auf angebliche islamische Regeln berufen, hat weniger mit der Geltung dieser Regeln zu tun als mit der kulturellen Prägung dieser Personen. Auch dass die Anwendung mancher dieser Regeln in islamisch geprägten Ländern universell anerkannte Menschenrechte verletzt, ist für das deutsche Recht zunächst einmal keine Bedrohung. Fremdes Recht kann in einer staatlichen Rechtsordnung nur dann angewendet werden, wenn das staatliche Recht selbst dies zulässt. Deutsches Recht ist also mit Regeln der Scharia nur insoweit konfrontiert, wie es selbst nach seinen eigenen Maßstäben diese Konfrontation herbeiführt. Spielraum hierfür besteht im Privatrecht, zum Teil bei den Grundrechten und nur ganz wenig im Strafrecht und beim staatlichen Gewaltmonopol. Religiös motivierte Streitschlichtung oder ein Täter-Opfer-Ausgleich nach Regeln der Scharia ist nur denkbar, soweit das staatliche Gewaltmonopol und mit ihm der Durchsetzungsanspruch des demokratischen Staates hierfür Raum lassen. Eine Scharia-Justiz in abgeschotteten, privaten Milieus ist damit nicht vereinbar. Auch eine religiös-kulturelle Rechtfertigung von Taten, die nach deutschem Recht strafbar sind, kommt grundsätzlich nicht in Betracht. Anders kann es dort sein, wo religiös motivierte Verhaltensweisen in Deutschland den Schutz der verfassungsrechtlich garantierten Religionsfreiheit genießen: In Deutschland lebende Muslime dürfen selbstverständlich individuell und kollektiv ihre Religion im Rahmen der für alle geltenden staatlichen Gesetze ausüben; das betrifft zum Beispiel den öffentlichen Ruf zum Gebet, das rituelle Schächten von Tieren oder bestimmte Kleidungsvorschriften, soweit sie tatsächlich religiös motiviert sind. Breiten Raum für die Anwendung fremden Rechts eröffnet vor allem das Bürgerliche Recht. Zunächst erlaubt das Internationale Privatrecht in bestimmten Fällen die Anwendung ausländischen Rechts beziehungsweise ordnet diese sogar an. Und dann stellt sich im Einzelfall die Frage, ob die im Ausland erfolgte Verstoßung der Ehefrau hier in Deutschland anzuerkennen ist oder ob eine im Iran vereinbarte Brautgabe vor deutschen Gerichten eingeklagt werden kann. Maßstab hierfür ist stets der sogenannte ordre public: Der fremde Rechtsakt ist nicht anzuwenden, wenn er mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts, insbesondere mit den Grundrechten unvereinbar ist. Auch für den inländischen Privatrechtsverkehr lässt die deutsche Rechtsordnung einigen Gestaltungsspielraum, was die Berücksichtigung islamisch geprägter Rechtsvorstellungen angeht, zum Beispiel für „Islamic Finance“-Geschäfte, vielleicht auch für die Einrichtung sogenannte MuslimTaxis, die das Geschlecht von Fahrer und Fahrgast aufeinander abstimmen. Grenzen ziehen hier nicht nur das Verbot sittenwidriger Verträge, sondern auch die deutschen Regeln des Antidiskriminierungsrechts. Unterm Strich gefährdet also die Scharia nicht das deutsche Recht, sondern bietet im Gegenteil Anlass, sich der eigenen Rechtsregeln und der dahinter stehenden Wertvorstellungen zu vergewissern. Dabei erkennen wir, dass das deutsche Recht als flexible Ordnung grundsätzlich offen ist für fremde Regeln und Praktiken, sich aber zu wehren weiß, wenn diese Praktiken unseren Grundwerten widersprechen. Eine Gefahr wird daraus erst dann, wenn wir selbst diese Grundwerte aus den Augen verlieren.