Auf den Spuren der Täter und Opfer. Welche Erkenntnisse liefert die Osnabrücker Gestapo-Datei?
- FB 01 – Kultur- und Sozialwissenschaften
- Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien
- 12.11.2021
- In der NS-Zeit übernahm und erweiterte die Geheime Staatspolizei reichsweit die Personen- und Vorgangskarteien der Politischen Polizei Preußens. Die Gestapo nutzte sie für Überwachung und Zugriff beim Versuch, die NS „Volksgemeinschaft“ herzustellen. Bei Kriegsende vernichteten die Täter nahezu alle dieser Karteien, nur fünf sind überhaupt erhalten – darunter diejenige für den Regierungsbezirk Osnabrück. Gemeinsam mit Dr. Sebastian Bondzio haben wir ein vollständiges digitales maschinenlesbares Replikat dieser Kartei gebaut, dass diese Quelle auf bisher einzigartige Art und Weise auswertbar macht. Einige Erträge liegen schon vor. Das Niedersächsische Landesarchiv hat bereits den gesamten Datenbestand in seinen digitalen Katalog eingespielt, sodass Sie alle schon jetzt im Digitalisat recherchieren können. Den Gedenkstätten Augustaschacht und Gestapokeller konnten wir umfassende Auswertungen und Modellierungen für ihre neuen Dauerausstellungen liefern, die Sie gleich hier im Schloss besuchen können. Und nicht nur wir publizieren fleißig Ergebnisse, auch Studierende nutzen den Datensatz für Abschlussarbeiten und tragen an der Schnittstelle von Forschung und Lehre zu unserem Wissen bei. Erkenntnisse auf drei Ebenen Erstens sehen wir nicht mehr nur einzelne Fälle beziehungsweise Karten, sondern das erste Raum-Zeit Modell des Verfolgungshandelns der Gestapo. Auf 48.819 Karten befinden sich Informationen zu 48.767 Personen und 40.939 Sachverhalten, die sich 33.250 Wohnadressen zuordnen lassen. Eine dieser Karten dokumentiert, wie die Beziehung zwischen einer deutschen Frau und einem Zwangsarbeiter aus Polen dazu führt, dass 1942 auf Veranlassung der hiesigen Gestapo Erna A. ins KZ Ravensbrück eingewiesen und Boleslaw B. im KZ Neuengamme ermordet wird. Setzen wir nun Tausende solcher Sachverhalte zueinander in Beziehung, werden nicht nur Opfer und Täter im Profil erkennbar, sondern auch Strukturen, Praktiken und Pfadabhängigkeiten von Überwachung und Verfolgung, wie etwa auf dieser kartografischen Auswertung stark vereinfacht dargestellt. Zweitens lernen wir etwas über die Anfänge technik- und wissensbasierter Herrschaft. Denn als die deutschen Verwaltungen Ende der 1920er-Jahre Großkarteien einführten, war das in etwa wie die digitale Revolution heute. Eine extreme Leistungssteigerung bei der Datenverarbeitung – allerdings nur zu bald pervertiert durch die Idee totalitären Durchherrschens von Gesellschaft im NS-Staat. Organisiertes Wissen wurde zu einer zentralen Machtressource. Dieses Wissen aber war eine soziale Konstruktion: Die Karteikarten zeigen also auch, wie und mit welcher Wirkung die Gestapo ihre Wirklichkeit mit Begriffen wie „rassische Musterung“, „Sonderbehandlung“, „Schutzhaft“ hervorgebracht hat. Drittens gehören wir zu den Pionieren einer „data driven history“, die soziohistorische Prozesse und Wissensproduktion aus seriellen Quellen beziehungsweise historischen Massendaten modelliert und analysiert, um die Verwobenheit sozialen Handelns und dessen Beschreibung oder „Datafizierung“ besser zu verstehen. Das setzen wir inzwischen mit unserem Projekt zur Osnabrücker „Ausländermeldekartei“ fort, die wir für den Zeitschnitt 1930 bis 1980 beforschen. Unsere Arbeit mit der Osnabrücker Gestapokartei dokumentiert also Täter und Taten, macht die Opfer sichtbar, analysiert Muster von Verfolgung und Repression, rekonstruiert Praktiken totalitärer Herrschaft und entwickelt Methoden digitaler Geschichtswissenschaft weiter.