Die Gedanken sind frei. Wann hat die Meinungsfreiheit ihre Grenzen?
- 13.11.2020
- Die Freiheit der Gedanken und der Rede sind hohe Güter, die im Artikel 19 der allgemeinen Menschenrechtserklärung besonderen Schutz erfahren: „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung.“ Dass Menschen denken dürfen, was sie wollen, und sagen dürfen, was sie denken, ist überlebenswichtig – nicht nur für die Demokratie und den Fortschritt des Wissens. Es geht um das Menschsein als solches. Wir sind keine Roboter, die einem fremden Algorithmus folgen, sondern eigenständige Wesen mit Würde. Um diese Würde zu wahren und uns ungehindert zu entfalten, brauchen wir das Recht auf mentale und expressive Souveränität. Das heißt nicht schon, dass wir jederzeit und überall lauthals verkünden dürfen, wie wir die Dinge sehen. An vielen Orten – wie zum Beispiel im Parlament – haben nur bestimmte Personen Rederecht. Im Ruheabteil der Bahn müssen alle den Mund halten. In Internetforen dürfen sich oft nur Mitglieder zu Wort melden und manche Bemerkungen, zu denen die Privatperson Angela Merkel jedes Recht hat, stehen ihr nicht zu, sobald sie sich als Bundeskanzlerin zu Wort meldet. Solche Begrenzungen der Meinungsäußerungsfreiheit sind unstrittig. Sie beziehen sich darauf, wer wo, wann, wie lange und in welcher Rolle spricht. Sie haben nichts mit dem Inhalt der jeweiligen Äußerung zu tun, also damit, was jemand sagt. Doch was ist, wenn es um inhaltliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit geht? Darf man Menschen wegen ihrer Meinung den Mund verbieten, und wenn ja: wann und warum? Meine Antwort auf diese Frage hat drei Teile: 1. Die Redefreiheit darf nicht eingeschränkt werden, weil eine Meinung nachweislich falsch ist oder jemand keine Ahnung von der Sache hat. „Wenn Menschen nur über das sprechen, was sie begreifen, dann würde es sehr still auf der Welt sein“, hat Albert Einstein gesagt und man mag ergänzen: Diese Stille wäre keine Wohltat. Wir brauchen den Meinungsaustausch – zum Beispiel um uns selbst ein Bild von der Welt zu machen, um (eigene) Irrtümer aufzudecken und bewusste Irreführungen zu entlarven. 2. Auch der Schaden, den eine Meinungsäußerung anrichten kann, wie etwa die Verletzung religiöser Gefühle, ist als solcher noch kein legitimer Grund, sie zu verbieten. Denn: Schaden entsteht auch durch die Einschränkung der Meinungsfreiheit. Redeverbote stiften mitunter Verwirrung darüber, was man noch ungestraft sagen darf, und die Unsicherheit bringt leicht auch diejenigen zum Schweigen, deren Voten wichtig und willkommen wären. Diese und andere Nachteile fallen ins Gewicht, wenn wir den Schaden abwägen, den eine Meinungsäußerung möglicherweise verursacht. 3. Einschränkungen der Meinungsfreiheit lassen sich nicht desto trotz grundsätzlich rechtfertigen, denn jede Freiheit hat ihre Grenze dort, wo die gleiche Freiheit anderer beginnt. Wenn die ungehinderte Verbreitung einer Meinung die Würde von Menschen oder gar die Meinungsfreiheit als solche bedroht, kann es daher legitim sein, sie zu unterbinden. Es gibt Äußerungen, die dem Zweck dienen, andere Menschen zu erniedrigen und mundtot zu machen, bis sie irgendwann keine Chance oder keinen Mut mehr haben, ihren berechtigten Anliegen Gehör zu verschaffen. Wenn Verbote notwendig und wenn sie nachweislich geeignet sind, das zu verhindern, sind sie gerechtfertigt.