Grippewelle. Corona-Virus. Wie lässt sich das Ausbruchgeschehen vorhersagen?
- 13.11.2020
- Eine Pandemie wie diese erleben wir zum ersten aber sicher nicht zum letzten Mal. Was brauchen wir also, um intelligent in dieser Situation handeln zu können? Welche Informationen benötigen wir, um das Infektionsgeschehen vorherzusagen und welche Methoden, um die Veränderungen zu erkennen? Dazu nutzen wir am Institut für Kognitionswissenschaft zwei Arten von Modellen, das statistische und das mechanische. Das mechanistische Modell simuliert die Ausbreitung der Viren und erlaubt es, virtuelle Szenarien durchzuspielen. Zum Beispiel möchten wir wissen, wie stark sich eine Veränderung der Infektionszahlen in den Schulen durch Halbierung der Klassengröße auf das Gesamtgeschehen auswirken würde. Dr. Viola Priesemann, Leiterin der Max-Planck-Forschungsgruppe Theorie neuronaler System in Göttingen, liefert das politisch bedeutendste mechanistische Modell für Deutschland. Es wird genutzt, um jede möglich Reaktion der Politik im Vorfeld im Computer durch zu spielen und dann eine Strategie mit mehreren Stufen der Eskalation zu entwickeln, um flexibel reagieren zu können. Der Nachteil von mechanistischen Modellen ist jedoch, dass sie nur begrenzt Vorhersagen machen können. Diese Lücke schließen die statistischen Modelle. Meine Arbeitsgruppe an der Universität Osnabrück entwickelt statistische Modelle zur Analyse der Situation. Dazu gehört ein Modell, welches wir mit dem Robert Koch-Institut (RKI) entwickelt haben, um die Dynamik von Infektionen auf der Ebene von Landkreisen vorherzusagen. In Pandemien ist es wichtig, neben dem wahrscheinlichsten Verlauf, auch eine Vorhersage für Szenarien mit mehr oder weniger drastischen Verläufen zu machen. Oder anders gesagt: Wir versuchen verlässliche alternative Entwicklungen vorherzusagen, um so eine Abwägung von Konsequenzen und Gefahren für schwache, starke oder katastrophale Entwicklungen in einem Landkreis zu ermöglichen. Unser Modell ist extrem komplex und rechnet auf Serversystemen der Universität viele Tage für die Vorhersage. Um trotzdem tagesaktuelle Vorhersagen liefern zu können, haben wir uns mit dem Forschungszentrum Jülich zusammengetan und in nur vier Monaten das Programm für einen der schnellsten Supercomputer der Welt am Helmholtz-Zentrum angepasst. Seit Ende September stellen wir nun die Vorhersagen und Analysen für die Landkreise auf einer öffentlichen Webseite https://covid19-bayesian.fz-juelich.de zur Verfügung und haben bis zu mehreren 100k Zugriffe am Tag. Ich bin stolz, dass wir das in so kurzer Zeit geschafft haben, mit einem Team von circa zehn Personen auf beiden Seiten. Aber, das war leider zu langsam! Wir sollten in Deutschland für die nächste Pandemie besser aufgestellt und vorbereitet sein. Die Vorbereitungen müssen jetzt beginnen! Unser konkreter Vorschlag ist, bundesweit dezentrale Dateninterventionsteams einzurichten, die in einer neuen Pandemiesituation zusammen Lösungen anbieten können. Die Zusammenarbeit sollte wie im traditionellen Katastrophenschutz regelmäßig geübt werden. Zudem braucht es einer Ethik Kommission, die schnell und effizient eine Abwägung vom Nutzen und den Gefahren von Daten vorbereitet. Als Reaktionszeit brauchen wir Tage und nicht Wochen und Monate! Zum Schluss etwas Persönliches. Eine Pandemie braucht schnelle und kreative Lösungen. Der Leiter des Super Computing Centers in Jülich, Prof. Dr. Dr. Thomas Lippert und wir am Institut für Kognitionswissenschaft haben im März entschieden, erhebliche Mengen an Personal auf dieses Projekt zu setzen, weil wir überzeugt waren und überzeugt sind, dass es wichtig ist. Vieles davon erfolgte in unserer Freizeit! Das soll zeigen: Wissenschaft muss nicht langsam sein, weil wir uns alle durch ein Dickicht von Bewilligungsprozessen und Anträgen kämpfen müssen. Da ist Wissenschaft nicht anders als andere Bereiche der Gesellschaft. Allein, es bedarf dem Willen, Prioritäten zu setzen.