Alte, Einsame und Sterbende allein gelassen. Haben die Kirchen während der Corona-Krise versagt?
- 13.11.2020
- Papst Franziskus hat am Karfreitag ein wichtiges Zeichen gesetzt: Nach der liturgischen Feier der Erinnerung an Leiden und Sterben Jesu ging er in der anbrechenden Dämmerung zum Segen „Urbi et orbi“ vor den Petersdom; vor ihm der regennasse, leere Platz, eine laute Stille, in der sich das vom Virus gebeutelte Italien meldete, die über 33.000 Toten, überlastete Krankenhäuser und Menschen, die auf den Intensivstationen um Luft zum Atmen ringen. Im Hintergrund war das alte Pestkreuz aus San Marcello al Corso (15. Jh.) zu sehen, symbolische Erinnerung an die Pandemien der Geschichte, und mit dem Menschen einerseits ihre Sprachlosigkeit angesichts von Leid und Tod zum Ausdruck bringen, andererseits den – trotz allem – mit Hoffnung verbundenen Schrei, das Licht des Morgens möge die Nacht der Angst durchbrechen. Erzbischof Carlos Castillo ging am Fest Fronleichnam durch die Kathedrale von Lima – allein, und er war doch nicht allein; auf jedem Platz in der Kathedrale stand lebensgroß ein Foto der vielen Verstorbenen, auch auf Stellwänden in den Seitenschiffen der Kirche hingen Bilder der Toten. Katholischem Brauch entsprechend schritt er zum Segen mit dem Weihrauchfass die Reihen ab, ein Zeichen, diesen Menschen Ehre zu geben am Fest, das erinnert an das Brot des Lebens, das Gott den Menschen gibt. Damit brachte er zum Ausdruck, dass die zigtausenden von Toten ebenso ihr Leben gegeben haben, dass sie nicht vergessen sind, dass ihnen im lebendigen Erinnern Ehre widerfährt und mit dem Zeichen des Weihrauchs die Hoffnung symbolisiert ist, dass die Opfer der Pandemie auf eine verwandelte Weise leben bei Gott und so „Brot des Lebens“ sind für die, die um sie trauern. Mit diesen ausdrucksstarken Bildern soll die berechtigte Frage, ob die christlichen Kirchen in den Wochen des Lockdowns Alte, Einsame und Sterbende allein gelassen haben, nicht abgeschmettert werden. Ganz stark klingt bei mir noch die in seiner Predigt formulierte Entschuldigung des Diakons meiner Kirchengemeinde nach: dass er nicht da war, wo die Not zum Himmel geschrien hat, in Schockstarre gefallen – wie viele andere, nicht am Krankenbett, nicht in den Altenheimen war, keinen Telefondienst eingerichtet hat. Sicher, viele sind erfinderisch geworden, gerade jüngere Christen und Christinnen. Kreative digitale geistliche Akzente wurden gesetzt, kleinere Gruppen trafen sich zu ökumenischen Bibelkreisen im Internet, Familien haben sich neu als Hausgemeinden entdeckt. Aber wo waren bei uns die öffentlichen Stimmen von Bischöfen sowie Theologinnen und Theologen, die die Krise in einen größeren Zusammenhang stellen? Mich haben die Reaktionen lateinamerikanischer Christinnen und Christen beeindruckt, die die Pandemie im Horizont der umfassenden ökologischen Krise als ‚Schrei der Erde‘ deuten. COVID-19 ist nicht das letzte lebensbedrohliche Virus, die Permafrostzonen tauen, die Regenwälder Amazoniens brennen wie nie, wir erfahren immer stärker die Grenzen unseres Planeten. Warum erschließen Christinnen und Christen nicht mehr die religiöse Tiefendimension dieser Grenzen und üben Kritik an ‚apokalyptischen‘ Krisenszenarien? Wir werden auf eine ‚radikale‘ Weise mit unserer einen und begrenzten Welt konfrontiert und sind zu einem neuen ökologischen Miteinander herausgefordert; dazu gehören Achtung vor dem Leben in aller Alltäglichkeit, Nähe in aller notwendigen Distanz und Mut zur ökologischen Umkehr.