Die Spaltung der Gesellschaft. Ein Stresstest für das politische System?
- 15.11.2019
- Eine 2019 in 27 Ländern erhobene Umfrage des französischen Meinungsforschungsinstituts Ipsos zum Thema Gesellschaftsspaltung offenbart Erstaunliches: Die Angst vor politischer Spaltung ist in Deutschland größer als in den meisten anderen Ländern. 81 Prozent sind hier der Ansicht, die deutsche Gesellschaft sei aktuell schon tief gespalten. Und 44 Prozent empfinden dies als Gefahr für die Demokratie. Nur 17 Prozent der Deutschen bewerten politische Konflikte als positiv. In Großbritannien sind es 41 Prozent. Fragt man nicht nach dem Zustand der Gesellschaft insgesamt, sondern nach der individuellen Selbsteinschätzung, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Die Verteilung politischer Einstellungen zwischen extrem Links und extrem Rechts entspricht einer idealen Glockenkurve. Die Allermeisten verorten sich in der politischen Mitte. Der Anteil politischer Extremisten an der Gesamtbevölkerung bleibt verschwindend gering. Das war nicht immer so. Am Ende der Weimarer Republik hatten wir eine Ausdünnung in der Mitte und eine tiefe Spaltung zwischen Rechts und Links. Und selbst in den 1980er und 1990er Jahren waren die Extreme in der Wählerschaft stärker ausgeprägt als heute. Trennendes findet sich gegenwärtig vor allem in Parteiprogrammen – weit mehr als in der Wählerschaft. Wenn Einstellungen zu aktuellen politischen Konflikten erhoben werden, zeigt sich unabhängig von Parteipräferenzen große Übereinstimmung. Dies gilt überwiegend auch für Wählerinnen und Wähler der politisch-ideologisch am weitesten auseinanderliegenden Parteien AfD und Die Linke. Ängste vor gewaltsamen Massenprotesten in Deutschland – ähnlich denen der französischen „Gelbwesten“ – erscheinen vor diesem Hintergrund weit hergeholt. Dadurch, dass Extreme den Parteienstreit und öffentlichen Diskurs bestimmen, entsteht der übertriebene Eindruck einer gespaltenen Republik. In Wahrheit ist die Gesellschaftsspaltung hierzulande sehr gering, die Angst davor aber sehr groß. Spaltungsangst und eine offenbar unstillbare Sehnsucht nach Zusammenhalt bilden eine gefährliche Mischung. Sie ist in allen politischen Lagern anzutreffen. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Dieser Satz von Kaiser Wilhelm II am Vorabend des I. Weltkriegs, käme – Umfragedaten nach zu urteilen – bei den meisten auch heute noch gut an. Daraus kann ein ebenso großes Demokratieproblem erwachsen wie aus einer eingebildeten Gesellschaftsspaltung, in die sich der politische Diskurs hineinsteigert.