Lyrik aus dem Rechner. Ende der menschlichen Kreativität?
- 15.11.2019
- Die Leserin, die diese Frage eingereicht hat, fügte folgende Erläuterung hinzu: „‚Die Krähe krummt schöner und freier daher‘, so lautet der Anfang eines Gedichts. Geschrieben hat es kein Dichter, sondern ein Computer, nachdem er sich durch riesige Lyriksammlungen gearbeitet hatte. Moderne Versionen programmierter Reime täuschen sogar menschliche Leser und erregen echte Gefühle. Ist das das Ende menschlich verfasster Poesie?“ Diese Frage wurde vermutlich inspiriert durch einen Artikel über neuere Entwicklungen in der Computerpoesie. In diesem Artikel erfährt man auch, wie es in dem Gedicht nach dem zitierten Anfangsvers weitergeht: „‚Die Krähe krummt schöner und freier daher / dreht ab und gleitet übers Viertel Meer.“ Die Frage und die dazugehörige Erläuterung zeigen, dass die computererzeugte Poesie nicht nur Faszination, sondern auch verschiedene Befürchtungen auslösen kann. Was zunächst die besorgte Frage nach dem Ende der Kreativität angeht, so könnte man antworten, dass diese computergenerierten Gedichte ja durchaus ein beeindruckendes Zeugnis menschlicher Kreativität sind. Die Informatiker nämlich, die diese Programme entwickelten, haben dabei vermutlich ein beträchtliches Maß an Kreativität aufgewendet. Aber die Frage zielt auch darauf, ob diese Computergedichte das Ende menschlich verfasster Poesie herbeiführen könnten, weil sie menschliche Leser täuschen und echte Gefühle erregen können. Diese besorgte Frage setzt ein bestimmtes Verständnis von Poesie voraus. In diesem Verständnis ist Poesie eine Form der menschlichen Kommunikation, die auch oder besonders auf das Hervorrufen bestimmter Gefühle zielt. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht wäre an dieser Stelle zunächst daran zu erinnern, dass es neben dieser Auffassung auch andere Auffassungen vom Sinn der Poesie gab und gibt. So sehen viele Dichterinnen und Dichter sowie Leserinnen und Leser den Sinn der Poesie in einem experimentellen Spiel mit der Sprache, einem Spiel, das sich sowohl die Bedeutungen als auch die klanglichen Eigenschaften von Wörtern zunutze macht. Wer die Poesie auf diese Art betrachtet, kann auch computergenerierten Gedichten ein Interesse abgewinnen. Als in den 1960er und 1970er Jahren die ersten Formen computergenerierter Poesie aufkamen, waren an dieser Entwicklung nicht nur Informatiker beteiligt, sondern durchaus auch Lyriker und andere Schriftsteller, die die Computergedichte als Anregung für ihre eigene Arbeit nutzten. Daneben gibt es aber natürlich auch jenes Lyrikverständnis, für das Gedichte eine besondere Form der menschlichen Kommunikation und des Gefühlsausdrucks darstellen. Doch wer sich für Gedichte auf diese Weise interessiert, der scheint mir eigentlich keinen Grund zu haben, die computererzeugten Gedichte als Bedrohung wahrzunehmen. Für diese Leser verliert das Gedicht eben alles Interesse, sobald sie erfahren, dass es nicht ein Mensch, sondern ein Computer war, der die Krähe „schöner und freier“ ‚daherkrummen‘ ließ. Aber das hindert diese Leser ja nicht daran, ein Gedicht mit demselben Wortlaut zu schätzen und ernst zu nehmen, wenn sie wissen, dass es von einem Menschen stammt. Mir scheint, dass ein Ende menschlich verfasster Poesie eher drohen könnte, wenn entweder das Interesse oder die Fähigkeit verschwindet, sich auf diese kunstvoll verdichtete Form des sprachlichen Ausdrucks einzulassen. Dafür, dass die Bereitschaft oder Fähigkeit hierzu verschwindet, gibt es aber gegenwärtig glücklicherweise kaum Anzeichen.