Klischee oder Vorurteil? Warum haben Jugendliche (kein) Bock auf "Klassik"?
- 15.11.2019
- Bei dieser Frage erkennt man zunächst gar nicht, worauf sich die Begriffe ‚Klischee‘ und ‚Vorurteil‘ eigentlich beziehen. Haben Jugendliche wegen ihrer Vorurteile keinen Bock auf ‚Klassik’? Oder ist die Aussage, dass Jugendliche mit klassischer Musik nichts anfangen können, selbst schon ein Klischee? Treue Besucher des Wissensforums erinnern sich vielleicht, dass ich vor drei Jahren an dieser Stelle gefragt worden bin, ob der Musikgeschmack eigentlich etwas über eine Person verrät. Und auch damals ging es um Klischees, die wir mit dem Musikgeschmack verbinden: Wenn wir Menschen mit bestimmten musikalischen Vorlieben auch bestimmte Eigenschaften zuschreiben („Jazz-Freunde trinken Rotwein, Metal-Fans sind gewaltbereit, Reggae-Hörer bekifft“), so sind dies letztlich Vorurteile, die individuell auch falsch und unfair sein können. Das mag unangebracht scheinen, ist aber rein menschlich und beruht auf Grundprinzipien, mit denen wir Menschen unsere komplexe Welt zu verstehen versuchen. Im Zusammenhang mit der heutigen Frage ist dies in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Auf der einen Seite ist Musik einer der stärksten Faktoren, wenn es um die Konstruktion der eigenen Identität geht: Wer bin ich eigentlich? Was macht mich aus? Wozu gehöre ich? – Gerade Jugendliche verknüpfen diese Fragen intensiv damit, welche Musik sie hören und welcher Musikkultur sie sich bis hin zu Kleidung und Haartracht anschließen. Auch hier greifen Klischees: Wer sich der Metal-Szene zurechnet, wird sich auch die klischeehaften, schwarzen Metal-Klamotten zulegen. So beginnt man dann ein Klischee zu leben, das man selbst über diese Musikkultur im Kopf hat. Auf der anderen Seite gehört zur Findung der eigenen Identität auch die Abgrenzung: Wie will ich NICHT sein? Wozu will ich NICHT gehören? Auch hierbei spielt Musik eine zentrale Rolle, insbesondere für Jugendliche: Die oft harsche Ablehnung von andersartiger Musik und der mit ihr verbundenen Konventionen und Gebräuche hilft dabei, die eigene Identität zu definieren. Die Vorstellungen der abgelehnten, ‚anderen‘ Musik sind dabei allerdings oft sehr klischeebehaftet und wenig von tatsächlicher Erfahrung geleitet. In Studien erklären viele Jugendliche, ‚Klassik‘ sei Musik für ältere Menschen, langsam und ernst, für besonders wohlhabende und gebildete Leute, für Fachleute mit besonderer Begabung. Kurz: ‚Klassik‘ ist in der Vorstellung der Jugendlichen eine Musik für Menschen, die in jeder Hinsicht völlig anders sind als sie selbst. Wenn dann auch noch die Klassik-Szene selbst alles tut, um diese Klischees zu bekräftigen, indem sie unter anderem vom hohen Ross der ‚E-Musik‘ (Ernste Musik) auf die vermeintlich minderwertige ‚U-Musik‘ (Unterhaltungsmusik) herabschaut, kann es nicht verwundern, dass die Mehrzahl der Jugendlichen das ganze Genre ‚Klassik‘ deutlich ablehnt. Müssen wir uns also damit abfinden, dass Jugendliche für die klassische Musik verloren sind? Glücklicherweise nein! Zahlreiche Studien zeigen, dass es möglich ist, diese Klischees und die Mauer der auf ihnen beruhenden Ablehnung zu überwinden, und zwar durch die Begegnung mit der Musik selbst. Jugendliche, die beim bloßen Begriff ‚Klassik’ mit den Augen rollen, zeigen plötzlich viel weniger Ablehnung oder sogar Gefallen, wenn ihnen zum Beispiel ein Stück von Mozart tatsächlich vorgespielt wird. Der direkte, persönliche Bezug zur klingenden Musik, sei es hörend oder noch besser spielend, ist damit der entscheidende Schlüssel, damit auch junge Leute Bock haben auf klassische Musik.