70 Jahre Grundgesetz. Wie frei ist heute die Forschung an einer Universität?
- 15.11.2019
- Unser Grundgesetz feiert in diesem Jahr sein 70. Jubiläum. In Artikel 5, Absatz 3 heißt es: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei […].“ Damit ist die Wissenschaft nichts anderem verpflichtet als der Verfassung und der Wahrheit selbst. Die Suche nach Wahrheit unter Nutzung transparenter, nachvollziehbarer Methoden und die Darstellung von Forschungsergebnissen ohne interpretative Verzerrung sind Kern des wissenschaftlichen Arbeitens. Eine Gesellschaft, die keinen Zugang zu wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen hat, riskiert die Legitimation von Demokratie an sich, in der die Vernunft eine entscheidende Rolle spielt. In vielen Ländern ist die Freiheit von Lehre und Forschung nicht in der Verfassung niedergeschrieben, oder sie ist zwar gesetzlich gesichert, wird aber nicht aktiv verteidigt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen sich nicht selten offener Repression ausgesetzt, werden verfolgt und bedroht oder bangen gar um Leib und Leben. Im Lichte derartiger Situationen sind wir verleitet, die eigene Situation besonders positiv zu bewerten und es damit auf sich beruhen zu lassen. Dies ist ein fataler Fehler. Die Freiheit von Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre ist auch bei uns bedroht; sie zu gewährleisten ist kein erreichtes Ziel, sondern ein fortlaufender, anstrengender und doch für unsere Gesellschaft zentraler Prozess. Zum einen sehen wir uns derzeit einer gesellschaftlichen Entwicklung gegenüber, die politischen Populismus an Boden gewinnen lässt. Wissenschaft ist der geborene Feind populistischer Politik. Dort, wo Meinungen und emotionale Botschaften Grundlage passungsferner Logiken sind, ist die sachliche Erkenntnis maßlose Bedrohung. Was müssen geneigte Populistinnen und Populisten also tun? Den Feind „Wahrheit“ bekämpfen. Wissenschaft wird rhetorisch zur Persiflage herabgewirtschaftet. Fälle mangelnder wissenschaftlicher Qualität werden zum Standard erhoben. Die Stärke des genauen Diskurses als unnötig anstrengend herabgewürdigt. Die Kleinschrittigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse als Zeitverschwendung abgekanzelt. Widersprüchliche wissenschaftliche Erkenntnisse werden nicht als Kern des wissenschaftlichen Diskurses erkannt und benannt, sondern als minderwertig verhöhnt, minderwertig gegenüber laut gebrüllten Meinungen, die keinen Widerspruch erlauben. Was also tun? Wir müssen die Pflicht zur Suche nach Wahrheit ernst nehmen. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen auch unter zunehmendem Effizienzdruck in ihrer Detailgenauigkeit, in ihrer Begrenztheit der Aussagekraft und unter voller Anerkennung des intellektuellen Eigentums anderer kommuniziert werden. Wissenschaft darf auch in der Vereinfachung zu Zwecken der Kommunikation diese Ideale nicht verraten. Wissenschaftliche Qualitätssicherung und Redlichkeit müssen den falschen Ansprüchen an einfache Antworten standhalten. Es gilt, um die hinreichende Ausfinanzierung von Wissenschaft zu kämpfen, die unabhängig ist von thematisch gebundenen Programmmitteln. Wir müssen aufzeigen, wie arm an Ressourcen unser Land ist ohne Bildung und Wissenschaft, wie instabil eine Demokratie, in der nicht ergebnisoffen und frei geforscht werden darf. Stehen auch Sie auf gegen die Diffamierung von Wissenschaft. Halten Sie schwierige und anstrengende Diskurse aus, scheuen Sie sie nicht. Wir brauchen starke Schutzengel der Freiheit von Wissenschaft, in der Politik, in Hochschulleitungen und durch Sie alle.