Islam und Moderne. Ein Widerspruch?
- 15.11.2019
- Die Frage „Islam und Moderne. Ein Widerspruch?“ wird seit Jahren diskutiert und ist daher immer noch eine hochaktuelle Debatte. Hinter dieser Frage steckt allerdings eine These, die alle Religionen tangiert: Und zwar geht diese Frage von einem Spannungsverhältnis von Religion und Moderne aus. Denn Religion war bis zum Aufkommen der Moderne ein selbstverständliches Deutungssystem. Dieses allumfassende Deutungssystem lieferte dem Menschen Orientierung im Leben, Antworten bei Krisensituation und half ihm also die Welt zu verstehen, zu ordnen. Mit dem Einbruch der Moderne am Ende des 18. Jahrhunderts beziehungsweise Anfang des 19. Jahrhunderts wurde dieses Deutungssystem allerdings erschüttert. Die europäische Aufklärung, die technologischen Entwicklungen sowie Säkularisierungsprozesse haben an den Grundfesten des Christentums gerüttelt. Im 19. und 20. Jahrhundert sollte die islamische Welt ebenfalls ihre bisher größten Herausforderungen erleben. So wurde das religiöse Deutungssystem, das Verhältnis von Staat und Religion sowie die Rolle der Religion in der Öffentlichkeit durch Modernisierungsschübe ebenfalls auf den Kopf gestellt. Erschwerend kam hinzu, dass die Europäer mit ihrem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt im Begriff waren, fast die gesamte islamische Welt zu kolonialisieren. Aufgrund ihrer stärkeren defensiven Haltung taten sich islamisch geprägte, kolonialisierte Gesellschaften noch schwerer, sich mit den Modernisierungsschüben zu arrangieren. Hinsichtlich der theologischen Lösungsansätze haben sich polarisierende Positionen herauskristallisiert, um Antworten auf diesen kollektiven Kulturschock zu finden. Die eine Position vertrat die Ansicht, dass die Rückständigkeit der islamischen Welt aus der Distanzierung von der eigenen Tradition resultiere. Man habe sich von der Religion und der eigenen Tradition distanziert, daher müsse man zurück zu den Wurzeln. Die Folge war, dass althergebrachte dogmatische Lehrmeinungen sakralisiert wurden. Ritualismus, Fatalismus, Resignation, seelenloser Formalismus und ein denkfauler Literalismus setzten sich durch. Die andere Position suchte hingegen die Lösung in einem zeitgemäßen Islam, indem sie den Islam mit der Moderne aussöhnen wollte. Sie sah grundsätzlich keinen Widerspruch zwischen den wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften des Westens und den Koraninhalten, und sie betonte die Notwendigkeit einer islamischen Reform durch die Überwindung der selbst verschuldeten theologischen Stagnation. Leider haben es diese progressiven Theologinnen und Theologen immer noch nicht einfach in islamischgeprägten Ländern. Denn um geistig frei atmen zu können, braucht man ein Klima der Denkfreiheit. In vielen muslimischen Ländern herrscht leider immer noch ein Denkverbot, sodass eher Reproduktion von Tradition gefördert wird. Daher sind die Empfehlungen des Wissenschaftsrats in Deutschland, Institute für Islamische Theologien zu gründen, ein historischer Schritt für europäische Muslime. Damit erhalten Theologinnen und Theologen die Möglichkeit, in einem Klima der geistigen Denkfreiheit den Islam kritisch zu reflektieren und zeitgemäße Ansätze zu entwickeln. Daher kann man die Ausgangsfrage folgendermaßen beantworten: Islamismus als statistisches Verständnis von Religion stellt eindeutig einen Widerspruch zur Moderne dar. Dagegen stellt ein Verständnis des Islam als dynamische Religion, der zeitgemäße Antworten sucht, keinen Widerspruch zur Moderne dar.