Charisma - das gewisse Etwas. Angeboren oder erlernbar?
- 15.11.2019
- Charisma: Jeder weiß, dass es existiert; nach einer Definition gefragt, erhält man allerdings häufig nur Beispiele für charismatische Persönlichkeiten. Negative wie Hitler oder Stalin, öfter positive wie Martin Luther King oder John Lennon. Die positiven Aspekte einer charismatischen Persönlichkeit gelten dabei als anstrebenswert und mit persönlichen Vorteilen verbunden. Damit ist die Frage naheliegend, ob das gewisse Etwas erlernt werden kann, oder ob man das Glück haben muss, damit geboren zu sein. Lange war Charisma ein theologischer Fachbegriff, der auf den Apostel Paulus zurückgeht. Er bezeichnete damit besondere Fähigkeiten, in denen sich Gottes Geist als Gnadengabe in eine Person ergießt. Diese Form von Charisma wird dabei nicht als persönlicher Vorteil gesehen, sondern ist durch den Auftragscharakter gekennzeichnet, diese Gabe zum Wohle der Menschheit einzusetzen. Anfang des 20. Jahrhunderts nahm der Soziologe Max Weber dem Charisma seine theologische Exklusivität, indem er – neben anderen Herrschaftstypen – den charismatischen Anführer thematisierte. Weber definierte Charisma als eine nicht jedermann zugängliche und außeralltägliche Qualität, in Krisensituationen als Retter einer Gemeinschaft zu fungieren. Charisma ist damit nicht länger eine von Gott gegebene Gnade, sondern es wird seinem Träger von der Gemeinschaft zugeschrieben. Diese Einsicht ist auch noch heute gültig. Ein Künstler wird erst durch die Bewunderung seiner Anhänger zum Star. Gegenwärtig lässt sich ein Trend zu einem inflationären Gebrauch des Begriffes Charisma feststellen. Ein Blick in die Medien zeigt, dass selbst Autos und Ferienhotels „charismatisch“ sein können. Weniger polemisch formuliert, ließe sich diese Inflation natürlich auch als eine Demokratisierung des Charismas beschreiben. Ein Mensch mit Charisma ist kein Auserwählter wie bei Paulus oder Max Weber, sondern eine Person mit einer fesselnden Ausstrahlung, deren Nähe von anderen geschätzt und gesucht wird und die deshalb Einfluss auf andere nehmen kann. Diese Ausstrahlung hat dabei verschiedene Quellen, etwa das Aussehen einer Person. In der renommierten Fachzeitschrift Science wurde zum Beispiel berichtet, dass bereits Kinder die Ergebnisse einer Parlamentswahl vorhersagen konnten, nachdem man ihnen lediglich Bilder der Kandidaten gezeigt hatte. Während man auf das eigene Aussehen nur beschränkt Einfluss nehmen kann, ist das bei anderen Quellen einer positiven Ausstrahlung eher möglich. Diverse verbale und nonverbale Verhaltensweisen, die eine Person charismatischer wirken lassen, sind erlernbar: Die Körpersprache, der Gesichtsausdruck, die Sprachmelodie und der Einsatz bestimmter Sprachfiguren sind nur einige Beispiele, die dem Aufbau einer förderlichen emotionalen Bindung zwischen Kommunikationspartnern dienen. Fazit: Charisma ist im heutigen Sinne eher als Eindrucksmanagement zu verstehen, und es ist in Teilen erlernbar. Durch so ein Training wird man sicherlich kein zweiter John Lennon, aber gegebenenfalls ein passabler Musiker. Das innere Brennen für ein Thema, das einen „echten“ Charismatiker auszeichnet, ist kaum zu erlernen. Genauso wenig wie das eingangs beschriebene Charisma im klassischen Sinne; aber dies ist vermutlich auch nicht immer wünschenswert. Mich würde es massiv irritieren, wenn meine Kollegen jeden Tag in hysterischen Jubel ausbrächen, wenn ich die Universität betrete.