Alte Frage neu gestellt. Kann die Literatur die Gesellschaft verändern?
- 17.11.2017
- Meine Antwort lautet: Diejenigen, die die Gesellschaft nicht verändern und ihre Macht erhalten wollen, fürchten die Literatur. Ovid wurde von Kaiser Augustus an das Schwarze Meer verbannt, Schiller schrieb „Die Räuber“ und floh nach Mannheim, die Beispiele sind ohne Zahl, daher nur noch ein drittes: Der chinesische Dichter Liao Yiwu wurde unablässig eingesperrt, floh 2011 über Vietnam nach Berlin und veröffentlichte dort den Roman „Die Wiederkehr der Ameisen“ auf Deutsch. Der Roman existiert nur in Übersetzungen und nicht in Chinesischer Sprache. Die Furcht hat mit der Sprache zu tun. Diese Antwort ist bislang nur eine indirekte Antwort auf die Frage, die mir gestellt wurde. Das gefürchtete Veränderungspotential ist am besten abzulesen, wo man versucht die Sprache der Dichter abzuschwächen, umzudeuten, einzubürgern, zu „normalisieren“. An der Normalisierung ist die nie ganz gelingende Veränderung abzulesen. Goethe meinte mit dem Begriff der „Bildung“ ursprünglich eine unruhige, dem Chaos der Welt begegnende poetische Tätigkeit, doch bis heute vereinnahmt das deutsche Bildungsbürgertum behäbig das Wort. Die Aufgabe der Literaturwissenschaft besteht darin, solchen Normalisierungen entgegenzuwirken und die „Fremdheit“ der Werke zu schützen. Das nenne ich Erziehung zur literarischen Erfahrung der Freiheit der Literatur. Wenn man so will, ist die Formung des Lesevermögens ein Pendant zum Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Heute spricht man von Schutzräumen (save spaces), in denen das eigene Empfinden nicht gestört werden darf. Den eigentlichen Schutzraum – der vor der Gefangenschaft in der eigenen Welt schützt – gibt jedoch die Literatur. Nicht jeder weiß, wie er dorthin gelangt, dafür ist die Einübung in die literarische Erfahrung nötig. Ein aktuelles Beispiel: Ein spanisches Gedicht von Eugen Gomringer (geboren 1925), das groß an der Wand der Berliner Alice-Salomon-Hochschule steht, soll – so der AStA dort – frauenfeindlich sein. Es lautet übersetzt: „Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer.“ Das Gedicht gehört zur konkreten Poesie, die durch die Ordnung von Wörtern das Gewohnte durchbricht und jene Freiheit schafft. Die Ordnung folgt hier dem Schema „a / a b / b / b c / a / a c / a b c / d“. Das Schema wird sich unterwegs selbst untreu, denn man erwartet nach „a / a b / b / b c“ eine andere Fortsetzung, etwa: „c / c d / c b a / d“. Hinzu kommt, dass man statt „ein Bewunderer“ den Plural „Bewunderer“ erwartet. Gomringers Gedicht verändert also zweierlei: Die Frauen als Objekte der Bewunderung treten zurück, und der nun einzige Bewunderer tritt ironisch auf, als sagte das Gedicht: und leider nur ein Bewunderer. Die Freiheit des Gedichts entsteht, wo der Bewunderer als Betrachter zu sich in Distanz tritt. Und letztlich auch in der Wahl des Wortes selbst, denn ein „Bewunderer“ wahrt die Distanz und ist kein Begehrender, oder gar ein Beherrschender. Um das zu verstehen, hilft – das sei den unverständigen Feinden der Kunst gesagt – nur Lesen lernen. Fürchtet Euch nicht.