Wenn Protest auf Frust trifft. Warum gab im Osten jeder Fünfte seine Stimme der AfD?
- 17.11.2017
- Bundestagswahl 2017: Der AfD Stimmenanteil lag im Osten bei 21,9 Prozent. Im Westen waren es 10,7 Prozent, vereinzelt auch darüber mit bis zu 20 Prozent in Teilen Niederbayerns. Neben dem Ost-West Unterschied offenbarte diese Bundestagswahl ein von Südosten nach Nordwesten reichendes Stimmengefälle. So war die AfD in Ostbayern und Württemberg stärker als im Rheinland und in Schleswig-Holstein, und in Ostsachsen lagen ihre Ergebnisse höher als an der mittleren Elbe sowie im westlichen Mecklenburg. Ein klarer Zusammenhang mit Krisenregionen lässt sich nicht nachweisen. Im Gegenteil, Bayern und Baden-Württemberg sind starke Industriestandorte. Und gerade im prosperierenden Großraum Dresden erzielte die AfD die meisten Stimmen. Wahlgeografie ist keine erklärungskräftige Wissenschaft. Sie krankt an unzulässigen Mittelwertvergleichen, Fehlschlüssen von Aggregatdaten auf Individualverhalten, und – im vorliegenden Fall – an einer Sichtverengung auf Ost und West. Weit erklärungskräftiger sind sogenannte multivariate Modelle der empirischen Wahlforschung mit ihren Bezügen auf individuelle Einzelmerkmale: Alter, Konfession, Geschlecht, Parteiidentifikation, sozialstrukturelle Lage, Einkommen, Bildungsstand, städtisches oder dörfliches Umfeld, politische Erfahrungen und Ereignisse. Worauf könnte es hier besonders ankommen? 26 Prozent der Männer und 17 Prozent der Frauen wählten im Osten die AfD. Dort herrscht Männerfrust. Der Frauenmangel ist größer als in den bislang dafür bekannten Regionen nördlich des Polarkreises. Vor diesem Hintergrund wenig überraschend beschied ein junger Pegida-Demonstrant einem Reporter: „Eine Frau und ein Job, wenn ich das hätte, würden sie mich hier nicht mehr sehen.“ Auch Religion prägt das Wahlverhalten: Ostdeutschland ist der „ungläubigste“ Fleck der Welt. 75 Prozent gehören dort keiner Kirche an und nur 13 Prozent glauben an einen Gott, im Westen sind es 54 Prozent – Tendenz aber auch hier abnehmend. Wie steht es um Parteiidentifikation, dem Einfluss gewachsener, oft familiär vererbter Parteibindungen? Nichts davon im Osten, aber auch hier immer weniger im Westen. Nicht ausgeschlossen, dass im Osten die Zukunft des Westens aufscheint. Auch im Blick auf sozialstrukturelle Gründe der Stimmabgabe – Arbeitslosigkeit, Familienstand, Einkommen, Lebenslagen etc. – finden wir stichhaltige Erklärungen. Ebenso mit Blick auf besondere Erfahrungen und Ereignisse. Zum Beispiel: Der 13 Quadratkilometer riesige, mit 200 Millionen Euro auf einer Tagebaufläche geflutete Goitzschesee wurde für 2,8 Millionen Euro teilprivatisiert, die 66 Kilometer lange Uferlinie der Öffentlichkeit zum Teil entzogen. Den Protest dagegen initiierte ein AfD-Mitglied und ortsbekannter Einzelhändler, keine andere Partei. Dies zeigt: Es sind nicht nur Rassismus und Fremdenhass, die der AfD im Osten Stimmen bringen – auch wenn das oft platt und plakativ vermittelt wird. Es gibt weitere Unterschiede, die zum Verständnis des Ostens beitragen können: Die dortigen Schulen schnitten in allen Pisa-Leistungstests deutlich besser ab als die im Westen. Sachsen ist nicht nur AfD-Hochburg, sondern auch Bildungsspitzenreiter in Deutschland. Sich darauf einen Reim zu machen, muss ich angesichts unserer Zeitknappheit Ihnen überlassen.